Das Wort Lese wie in Weinlese stammt von den Verbformen „lesen“ (mittelhochdeutsch), „lesan“ (althochdeutsch), „lisan“ (gotisch), „lesan“ (altenglisch) und „läsa“ (schwedisch) ab. Genau genommen geht es auf die Wurzel „les-“ zurück, die „verstreut Umherliegendes aufnehmen und zusammentragen, sammeln“ bedeutet. Soweit die trockene Theorie, die eine perfekt getimte Ernte, diesen so wichtigen Schritt des Weinanbaus, nicht im Mindesten in seiner Bedeutung zu umreißen vermag. Reben im Einklang mit Natur und Witterung zu kultivieren, schließt große Hingabe und eine gehörige Portion Vertrauen ein, denn nicht alles liegt in den Händen der Winzerinnen und Winzer. Die Lese ist damit das Ende eines langen Prozesses, in dem sich der Geschmack der Trauben unter dem Einfluss äußerer Umstände immer wieder transformieren kann.
Für den Opernball wurden vier feine Tropfen ausgewählt, die nicht nur für Kennerinnen und Kenner ein Highlight sind. Beginnen wir mit dem Les Légendes R Bordeaux rouge (2019) aus dem Hause Domaines Barons de Rothschild (Lafite). Dieser Wein ist fruchtbetont und zeichnet sich durch besondere Frische aus. Viel Sonne und nur wenig Regen kurz vor der Ernte brachte den Energieschub für einen vollen, konzentrierten Geschmack mit Aromen nach roten und schwarzen Beeren und der Würze einer leichten Barriquenote. Wer die Leichtigkeit eines Weißweines bevorzugt, ist mit dem Chardonnay Puglia IGT (2022) auf der sicheren Seite. Die Familie Antinori, leidenschaftliche Winzerinnen und Winzer in der 26. (!) Generation, gründete das Weingut Tormaresca 1998 und baut in Apulien an. Der reinsortige, lebhafte Wein zeichnet sich durch ein Bouquet von Apfel, Zitrone und Akazie aus – herrlich duftig! Zum Stichwort „fruchtig“: Der Portia Roble (2020) bringt saftige Kirsch- und Waldbeeraromen und einen Hauch zarter Röstnoten mit. Er stammt aus dem nordspanischen Ribera del Duero und wurde auf dem Weingut Bodegas Portia angebaut. Natürlich darf der deutsche Wein schlechthin nicht fehlen, und so komplettiert ein feinherber Riesling (2022) den Reigen. Er kommt vom Kloster Eberbach im Rheingau und besticht mit Zitrus- und Pfirsichnuancen sowie mineralischen Tönen. Das 1135 gegründete Kloster entwickelte sich im Hochmittelalter zum größten Weingut Europas und steht auch heute für deutsche Spitzen-Weine.